5 Nov 2023

Nervenzellen können Vorhersagen treffen

Was wäre, wenn...? Die Vorhersage der Zukunft ist von zentraler Bedeutung für unsere Interaktion mit der Welt, fürs Lernen und Planen. Es gibt Hinweise darauf, dass dies auch für verschiedene Areale unseres Gehirns gilt.


Was wäre, wenn…? Die Vorhersage der Zukunft ist von zentraler Bedeutung für unsere Interaktion mit der Welt, fürs Lernen und Planen. Es gibt Hinweise darauf, dass dies auch für verschiedene Areale unseres Gehirns gilt: Nervenzellen können sensorische Impulse vorhersehen und vorab aktiv werden. Genau darum geht es in einem Beitrag, den Forschende des Ernst Strüngmann Institute (ESI) for Neuroscience kürzlich in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature Communications veröffentlichten. In ihrem Fachartikel Sequence Anticipation and Spike-Timing-Dependent Plasticity erörtern Matteo Saponati und Martin Vinck, wie unser Gehirn zukünftige Ereignisse vorhersagen kann; eine Fähigkeit, die für intelligentes Verhalten entscheidend ist.

Wie werden Inputs von Nervenzellen bewertet und eingeordnet?

Nervenzellen im Gehirn, auch Neuronen genannt, empfangen durch Synapsen, die an ihnen andocken, eine Vielzahl von Informationen (Inputs). Organismen sind darauf angewiesen, künftige Inputs vorwegzunehmen, um mit der Welt zu interagieren und ihr Verhalten entsprechend zu organisieren. In ihrer aktuellen Arbeit fragen sich Matteo Saponati und Martin Vinck: Nach welchen Prinzipien werden Inputs bewertet und eingeordnet? Welche Lernregeln unterstützen Neuronen dabei, Inputs vorherzusagen? Welche Rolle spielt Lernen (synaptische Plastizität) bei der Vorhersage zukünftiger Ereignisse?

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Neuronen synaptische Inputs umgekehrt proportional zu ihrer Vorhersagbarkeit bewerten: Nervenzellen behandeln also die Informationen, die Synapsen an sie weitergeben, in Abhängigkeit davon, wie leicht vorherzusagen ist, was als nächstes passiert. Kann eine Verbindung gut vorhersagen, was als nächstes geschieht, wird sie gestärkt. Kurz: Neuronen verstärken die Inputs, die das Auftreten nachfolgender Inputs vorhersagen, und unterdrücken die vorhergesagten Inputs selbst. Nach demselben Prinzip lernen Neuronen, auch hochdimensionale Muster über kurze und lange zeitliche Sequenzen vorauszusehen: Für die ersten Inputs, die noch unvorhersehbar sind, feuern die Neuronen stark, und unterdrücken dann die nachfolgenden, vorhersehbaren Inputs.

Eine Lernregel, die viele Phänomene erklärt

Das Vorhersehen lernen Neuronen, indem sie ein Modell entwickeln, wie verschiedene Inputs im Laufe der Zeit zueinander in Beziehung stehen. Gleichzeitig ermöglicht dieser Lernmechanismus Abfolgen von Ereignissen über lange Zeiträume hinweg zu lernen und Aktivitätsmuster (sogenanntes „Feuern“) daran anzupassen.

Die Arbeit legt außerdem nahe, dass diese Lernregel mehrere bereits experimentell im Gehirn beobachtete Phänomene erklären kann, insbesondere die zeitabhängige Plastizität (spike-timing-dependent plasticity, STDP). Das ist ein Prozess, bei dem der Zeitpunkt des Feuerns von Neuronen eine wesentliche Rolle für das Lernen spielt. Die Vorhersage scheint eine grundlegende Rolle dabei zu spielen, wie einzelne Neuronen lernen und sich anpassen, weil sie den Zeitpunkt und die Organisation der neuronalen Aktivität beeinflussen kann.


Originalpublikation
Saponati M, Vinck M (2023). Sequence anticipation and spike-timing-dependent plasticity emerge from a predictive learning rule. Nature Communications, 14, 4985. https://doi.org/10.1038/s41467-023-40651-w