
Die auditorische Abweichungserkennung hat sich nicht nur evolutionär bewährt, sie ist auch nach wie vor überlebenswichtig. Denn abweichende akustische Reize innerhalb einer repetitiven und an sich vertrauten Geräuschkulisse valide zu identifizieren und unmittelbar korrekt zu verarbeiten, kann zum Beispiel im Straßenverkehr Leben retten und trägt insgesamt schlicht zu einer besseren Orientierung bei.
Doch wie genau ermöglicht das Gehirn diese differenzierte Reizwahrnehmung? Dies wurde bisher primär für die Vorgänge innerhalb des Kortex untersucht, der höheren Gehirnregion, in der komplexe kognitive Funktionen verarbeitet werden. Neuere Untersuchungen lieferten zwar Hinweise darauf, dass die Abweichungserkennung auch von tieferen, subkortikalen Regionen mitgesteuert wird, jedoch verhinderten methodische Begrenzungen bis dato den weiteren Erkenntnisgewinn.
Hier haben Forschende des Ernst Strüngmann Instituts (ESI), der Goethe Universität und des MPI für Hirnforschung, alle in Frankfurt, nun einen signifikanten Fortschritt erzielt: Im Rahmen einer im Journal of Neuroscience veröffentlichten Studie mit gesunden menschlichen Probanden untersuchten sie die Reizverarbeitung innerhalb des Colliculus inferior (IC), einer bereits evolutionär an der Hörverarbeitung beteiligten Stammhirnregion. Dazu setzten sie sogenannte Auditory Brainstem Response (ABR)-Messungen ein, non-invasive EEG-Untersuchungen, die sich durch eine exzellente zeitliche Auflösung der subkortikalen Verarbeitungsprozesse auszeichnen und mithilfe derer erstklassige Messergebnisse erzielt werden konnten.
Die Studienergebnisse deuten so nun darauf hin, dass nicht nur der menschliche Kortex, sondern auch tiefere Hirnregionen eine schnelle und reizspezifische Abweichungserkennung aufweisen. So konnten die die Forschenden zeigen, dass abweichende akustische Reize insbesondere innerhalb des Colliculus inferior sehr schnell erkannt und verarbeitet werden. Dabei kann das Stammhirn, je nachdem wie sich die Reize zum Beispiel hinsichtlich ihrer Tonhöhe, Lautstärke oder Klangfarbe unterscheiden, auch die Art der Abweichung erkennen und stimulus-spezifisch darauf reagieren.
Die Forschenden schlagen daher vor, dass neben dem Kortex auch das Stammhirn eine zentrale Rolle bei der Steuerung der auditiven Aufmerksamkeit spielt. Gleichzeitig erweitern die Erkenntnisse das Verständnis darüber, wie das menschliche Gehirn innerhalb einer vertrauten Geräuschkulisse abweichende Geräusche schnell erkennt und die Aufmerksamkeit auf relevante Informationen lenkt.
Dieses Wissen könnte nachhaltigen Einfluss auf die Verbesserung der Hördiagnostik haben, etwa bei der Entwicklung von Hörtests, die Funktionsstörungen im auditiven System deutlich früher und personalisierter detektieren, oder der Weiterentwicklung von Hörgeräten und Cochlea-Implantaten, mithilfe derer die Änderung akustischer Reize deutlich sensitiver erfasst werden können. Chancen ergeben sich aus den Erkenntnissen aber auch für die Weiterentwicklung von Diagnose- und Therapieansätzen bei ADHS oder anderen Aufmerksamkeitsstörungen.
Von dem Wissen profitieren könnten darüber hinaus aber auch die Weiterentwicklung technischer Systeme, wie Sprachassistenten, Alarmanlagen oder intelligente Audiofilter, indem sie, dank brain-inspired AI, lernen, wichtige akustische Signale schneller zu erkennen und gezielter darauf zu reagieren.
Originalpublikation
Johannes Wetekam, Nell Gotta, Luciana López-Jury, Julio Hechavarría, Manfred Kössl.
Rapid and Stimulus-Specific Deviance Detection in the Human Inferior Colliculus
Journal of Neuroscience 9 April 2025, 45 (15) e1846242025
[https://www.jneurosci.org/content/45/15/e1846242025]